Aufbruch ins Ungewisse - Reisen im Mittelalter

Radiowissen
Ob Pilger, Kreuzritter oder Handelsreisende: Die Menschen im Mittelalter waren - anders als landläufig bekannt - sehr mobil. Sich seinerzeit auf den Weg zu machen war indes meist kaum bequem - und nicht selten ein lebensgefährliches Unterfangen. Autor: Lukas Grasberger
Credits
Autor/in dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Susanne Schroeder, Peter Weiß
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Rainer Leng, außerplanmäßiger Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Würzburg Florian Wagner, Fotograf, Projekt „Mittelalter 2.0“, München Anthony Bale, Professor für Literatur des Mittelalters und der Renaissance an der University of Cambridge und Autor „Reisen im Mittelalter: Unterwegs mit Pilgern, Rittern, Abenteurern.“#
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Ein kalter, dunkler Januartag im Jahr 1484. Der Regen peitscht der einsamen Gestalt ins Gesicht, die sich zu Pferd der freien Reichsstadt Ulm nähert.
ZITATOR
„Nie auf meiner ganzen Reise geriet ich so außer mir wie hier, denn Nässe macht den Menschen von Natur aus trist und völlig unordentlich“
SPRECHERIN
...so wird sich der Mönch Felix Fabri an die letzte Etappe, die Rückkehr von seiner Pilgerreise nach Jerusalem erinnern. Doch dann, als die Häuser Ulms am Horizont auftauchen, hellt sich Felix Fabris Stimmung auf. Als er sich endlich dem heimatlichen Kloster nähert, weicht letzte Beklommenheit purer Willkommensfreude. Der Ankömmling wird überschwänglich empfangen, Felix Fabris Prior begrüßt ihn...
ZITATOR
„ohne auf seine Würde und sein hohes Alter zu achten, und rannte wie ein Jüngling, als wolle er ein Feuer löschen.“
SPRECHERIN
Denn seine Ordensbrüder hatten Felix Fabri eigentlich für tot gehalten. Fabris Briefe aus dem Heiligen Land - sie waren nie angekommen.
SPRECHERIN
Eine Szene, die die Gefahren und Unwägbarkeiten einer typischen Reise im Mittelalter lebendig werden lässt – einer Pilgerreise. Felix Fabri war seinerzeit einer von Vielen: In Massen strömten die Menschen damals gen Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela. Doch nicht nur Geistliche oder Adelige gingen auf religiös motivierte Reise. Dies taten im Mittelalter auch einfache Stadt-Bürger oder Bauern – wenn deren Ziel auch nur der nächstgelegene Wallfahrtsort gewesen sein mag, wo man für die Linderung körperlicher Leiden betete oder – in einem Ablass - um die Vergebung von Sünden. Die Vorstellung jedenfalls, dass die Gesellschaft im Mittelalter statisch war, dass kaum einer je sein Dorf oder seine Stadt verließ – diese Vorstellung sei grundfalsch, sagt der Historiker Rainer Leng.
O-Ton 1 LengAlso auch der einfache Bauer, von dem man früher immer dachte, der kommt nie über sein Dorf hinaus, war regelmäßig unterwegs. Die Forschung spricht hier von einer hohen horizontalen Mobilität, was letztlich bedeutet, dass auch die einfachen Leute gereist sind. Regelmäßig die Verwandtenbesuche oder auch der Bauer auf einem kleinen Dorf reiste natürlich regelmäßig auf die Märkte in den nächsten größeren Städten, um seine Waren zu verkaufen oder um Geräte einzukaufen, die der Dorfschmied nicht machen konnte. Und das übliche: Verwandtschaften, religiöse Reisen….“
SPRECHERIN
Vor allem der Adel war im Mittelalter viel auf Achse: Rainer Leng, der an der Uni Würzburg zum Thema Mittelalterliche Geschichte lehrt und forscht, spricht von „Reisekönigtum“ und „Herrschaft aus dem Sattel“. Denn im Mittelalter hatten Kaiser und Könige keinen festen Herrschaftssitz. Sie waren dauernd im Reich unterwegs. Auch Fürsten pendelten zwischen ihren jeweiligen Teilresidenzen. Oft schickten die Fürsten und Könige ihre Vertreter, um mit anderen Herrschern zu verhandeln. Diplomaten, Gesandte und Adelige reisten, um politische Allianzen zu schmieden oder Verträge zu unterzeichnen.Die professionellen Briefboten – sie waren wohl am meisten unterwegs, damals, im Mittelalter. Bis zu 80 Kilometer legten sie pro Tag zu Fuß zurück, um Nachrichten zu überbringen. Schließlich zogen per Pferd viele Ritter umher: Zu verschiedenen Schlachtfeldern innerhalb Europas - oder zu Kreuzzügen, etwa ins Heilige Land.
O-Ton 2 Leng
Das mittelhochdeutsche Wort für Krieg ist Reise. Also ursprünglich kommt unser Wort Reisen von unterwegs sein, um Krieg zu führen.
SPRECHERIN
...sagt Rainer Leng.
O-Ton 3 Leng
Wenn wir beim Reiseanlass „Krieg“ sind, man hat im Mittelalter den Krieg im Winter eigentlich immer zu vermeiden versucht. Und nur im Sommerkrieg geführt. Selbst früher war es gefährlich, wenn man mit einer ganzen Armee hochgerüsteter Fußkämpfer und Pferde in ein Regenwetter kam und alles im Matsch stecken blieb. (…) Das Wetter konnte insbesondere bei Alpenüberquerungen hochgefährlich werden. Und es konnte Reisen auch prinzipiell verhindern.
O-Ton 4 Wagner
Weil da ging es ja um Leben und Tod, und die Ausbildung des Pferdes für Ritter war höchst aufwendig und es war ein absoluter Luxus, es war im Prinzip der Ferrari des Mittelalters. Also die Ausbildung hat zwölf Jahre lang gedauert.
SPRECHERIN
...weiß der Münchner Fotograf Florian Wagner. Er hat sich wie die alten Ritter auf den Weg gemacht, ist mit Pferden und Zelten durchs österreichische Mühlviertel gezogen.
O-Ton 5 Wagner
Was wichtig ist, ist erst einmal, wenn ich jetzt diese Strecken mache: Es kann ja mal passieren, dass du dein Ziel nicht erreichst. Dann brauchst du eine Möglichkeit, dein Pferd so anzubinden, dass es am nächsten Tag noch da ist, als Erstes. (...) Das zweite Thema ist, der Mensch will ja auch versorgt sein. Entweder du nimmst Proviant mit, dazu gab es entweder Wagen oder Packpferde. Es waren genügsame Pferde, es waren stabile Pferde, die viel kleiner waren, als man das glaubt. Und es gab auch ein Gesetz, dass ein Ritter, wenn er vorbeireitet an deinem Land, dann darf er so viel Nahrung für sein Pferd mitnehmen, wie er braucht und tragen kann für ein Pferd. Das heißt, das Thema war erledigt, aber wenn der Ritter selber und seine Gefolge, der hatte ja auch Knappen und so weiter, wenn die nichts zu essen hatten, dann durften sie jagen.
SPRECHERIN
Leicht war das Gepäck damit keineswegs.
O-Ton 6 Wagner
Du musst ja auch die Waffen mitführen, du musst ja auch die Ausrüstung mitführen, du musst ja auch eventuell ein Zelt mitführen, du musst ja auch Feuer machen können.
SPRECHERIN
Die Zelte der Reisenden des niederen oder hohen Adels waren meist aus strapazierfähigem Leinen, das man mit Wachs oder Leinöl gegen Wind und Wetter imprägnierte. Die Zelte der einfachen Ritter oder Soldaten waren mit Stroh, die der Fürsten und Könige jedoch mit Teppichen ausgelegt: Mobile Paläste, die innen zudem mit kostbaren Stoffen ausgeschlagen waren. Luxusherbergen auf Zeit, die zuweilen gar mit transportablen Kaminen geheizt wurden. Der Adel musste im Mittelalter auch unterwegs kaum auf eine Annehmlichkeit verzichten, sagt Anthony Bale, Autor des Buchs „Reisen im Mittelalter: Unterwegs mit Pilgern, Rittern, Abenteurern.“
O-Ton 7 Bale
Sprecher OV
„Ich beginne mein Buch mit zwei sehr wohlhabenden Reisenden: Lady Lutrell und Henry von Derby, der spätere König von England Henry IV. Dieser reiste nach Preußen, dann ins Heilige Land, und nach Venedig. Stets mit einer unglaublichen Menge an Gepäck. Kutsche für Kutsche, Wagen für Wagen beladen mit Unmengen an Essen: Gemüse wie Gewürze; Knoblauch, Zwiebeln, Erbsen, Lauch, alles mögliche. Dazu zahlreiche Tiere, die man schlachtete, einmal aber auch einen Leoparden. Als er sich auf den Weg machte, nahm er einfach alles aus seinem Haushalt mit. Und das war eine Zurschaustellung von Wohlstand, Macht und Patronage. Die adeligen Reisenden konnten sich ziemlich frei bewegen.“
SPRECHERIN
Einen überall gültigen und anerkannten Personalausweis, Reisepass oder Reisefreiheit – das alles gab es im Mittelalter nicht. Aber das heißt nicht, dass Reisende keine Dokumente brauchten. Ganz im Gegenteil. Sie mussten etliche Schriftstücke dabei haben, welche die Ausreise aus dem eigenen Herrschaftsgebiet oder das Durchreisen durch andere Königreiche oder Fürstentümer genehmigten. Anthony Bale:
O-Ton 8 Bale
Sprecher OV
Dafür war ein formaler Geleitbrief erforderlich. Einfache Menschen auf dem Land mussten, wenn sie Leibeigene waren, die Erlaubnis ihrer Herren einholen, um zu reisen. Zudem musste der örtliche Geistliche seine Zustimmung geben.“
SPRECHERIN
Auch Priester oder Mönche konnten nicht auf eigene Faust aufbrechen – etwa zu einer Pilgerreise, sagt der Würzburger Historiker Rainer Leng.
O-Ton 9 Leng
„Kleriker durften auf gar keinen Fall reisen ohne Erlaubnis ihrer jeweiligen geistlichen Oberen, also etwa des Abtes, wenn es ein Mönch war. Bürger allerdings dürften sehr wohl reisen, wann immer sie wollten, wohin auch immer sie wollten.“
SPRECHERIN
Hatte man einmal die Erlaubnis, sich auf den Weg zu machen, blieb da noch immer die Frage der Finanzierung. Einfache Reisende führten Empfehlungsschreiben an Verwandte und Bekannte mit sich, mit deren Hilfe man kostenlos an Essen und Trinken oder eine Schlafgelegenheit kam.
O-Ton 10 Leng
Natürlich konnte man es, wenn man nicht genug Geld hatte, auch auf die billige Art und Weise versuchen. Also dann halt eben hinter einer Hecke schlafen und sich irgendwie durchzubetteln. (...) Die große Masse ging natürlich zu Fuß, das war das einfachste Verkehrsmittel und im Übrigen auch das billigste und das schnellste.
